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I S S U E    N O .   7    [ O C T O B E R    1 9 9 8 ]

Martin Sturm
Mündliche Syntax im schriftlichen Text - ein Vorbild?

Zum Tageszeitungskommentar in "Frankfurter Rundschau", "Rhein-Zeitung" und "BILD"

In den Kommentarspalten der Tageszeitungen haben nicht nur Argument und Meinung ihren festen Platz. Wo Journalisten persönlich Stellung beziehen und ein in der Tradition der Pressefreiheit verwurzeltes Genre pflegen, geht auch die Sprache der Zeitung eigene Wege. Sie weicht dabei regelmäßig von ihrer nüchternen, zweckhaften Ausdrucksweise ab und unterläuft grammatische Normen oder "Vorschriften", die sonst im ganzen Blatt akzeptiert und praktiziert werden. Eine ganze Reihe solcher "Normverstöße" korreliert mit syntaktischen Strukturen, die für die Gesprochenen Sprache typisch sind. Sie sollen hier im Mittelpunkt stehen.

Gesprochene Umgangssprache in Zeitungen ist Gegenstand von - nicht selten pauschaler - Kritik gewesen (vgl. Fischer 1983, Fischer MS). Man attestierte den Zeitungen, sie verwendeten einen "Sprachstil, der sich eher an Mustern gesprochener Rede [...] ausrichtete" und "mit seiner verkürzenden und vereinfachenden Form die Verbreitung von Halbwahrheiten" fördere (Nail 1985: 1665). Das Produkt Zeitung hat sich seitdem sehr verändert, der schlechte Ruf ist geblieben: Das Wort "Zeitungssprache" steht noch immer auch für ein Klischee und als "Synonym für fehlerhaftes Deutsch und schlechten Stil" (ebd.).

Eine positive Auffassung vom Einfluß der Mündlichkeit auf die Zeitungssprache wurde hingegen in jüngerer Zeit vertreten und kehrte damit den früheren, niedrigen Stellenwert des mündlichen Paradigmas um: "Es hat [...] den Anschein, als ob die Übermacht der geschriebenen Sprache über die gesprochene nicht mehr unvermindert weiterwirkt und daß der lebendige, ungezwungene Sprachgebrauch stark genug ist, die Stilistik der Schriftsprache aufzulockern." (von Polenz 1978, zit. nach Holly 1995: 340. Vgl. auch Behaghel 1899: 224)

Der vorliegende Aufsatz faßt die wichtigsten Ergebnisse meiner Magisterarbeit (Sturm 1997) zusammen . Er soll auch in dem kurz skizzierten, ehemals heftig umkämpften Spannungsfeld für mehr Klarheit sorgen. In der Arbeit wird vor allem untersucht, ob und mit welchen Konsequenzen mündliche "Umgangssprache" in die Sprache der Zeitungen eingedrungen ist. Zu diesem Zweck habe ich eine markante Struktur der Syntax der Gesprochenen Sprache ausgewählt. Es handelt sich dabei um jene topologische Position, die als der "unscharfe [...] linke Rand deutscher Sätze" bezeichnet wird (vgl. Auer 1991: 139).

In Anlehnung an das Modell der topologischen Felder (Drach 1963, vgl. Eisenberg 1989: 411 ff.) faßt Auer (1997) eine Reihe verschiedenartiger Syntagmen unter dem Oberbegriff Vor-Vorfeld zusammen (vgl. Beispiel (1)). Seine Belege bilden den Ausgangspunkt meiner Untersuchung: In Analogie dazu habe ich nach entsprechenden Strukturen in einem nicht-repräsentativen, jedoch als Querschnitt konzipierten Zeitungskorpus gesucht (vgl. Beispiel (2)). Die 300 aktuellen politischen Kommentare stammen zu gleichen Teilen aus einer überregionalen Qualitätstageszeitung ('Frankfurter Rundschau', hier abgekürzt: FR), einer großen Lokalzeitung ('Rhein-Zeitung', abgekürzt: RZ) und dem auflagenstärksten deutschen Boulevardblatt 'Bild'.

Gemessen an ähnlichen Untersuchungen (z.B. Pfeil 1977) wurde die Stichprobe verhältnismäßig groß konzipiert, um neben absoluten Zahlen auch charakteristische quantitative Tendenzen im Vergleich der Blätter untereinander festzustellen (und Annahmen über den Typ von Zeitung zu ermöglichen, die es vertritt). Die Belege wurden quantitativ nach den gewählten Merkmalen (d.h. verschiedenen syntaktischen Strukturen) im einzelnen erfaßt, so daß eine aussagekräftige Statistik entstanden ist. Der Schwerpunkt lag jedoch auf der qualitativen Analyse, indem die gesammelten Daten im Detail ausgewertet und einzeln mit ihren mündlichen "Vorbildern" verglichen wurden, z.B.

(1) JUGENDLICHE SPRECHWEISEN / Schule 8.4.1991 (Schlobinski, Kohl, Ludewigt 1994)


Ilona: das warn so fünfzehn stück (.) er meinte gegen sechs könnt=er wohl noch ankommen aber gegen fünfzehn nich (.) weil er ist ja boxer und deswegen (.) der hat kraft (.)

(2) RZ, "Baum-Schule", 25.4.96, S. 2

Andere Branchen tun sich weitaus schwerer, die Prinzipien der Nachhaltigkeit und der Verantwortlichkeit zu verinnerlichen. Vielleicht weil ihr Produkt(-)ein Auto etwa(-)auch dann noch sauber glänzt, wenn's dem Wald schon lange dreckig geht... Aber, schieben wir nicht alles auf die Industrie. Schließlich, wir sitzen im "bösen Auto". Und wir sind es auch, die tagtäglich einen so wenig "nachhaltigen" Lebensstil genießen. [...]

Mit der Wortwahl des "Vorbilds" ist bereits die Ausgangshypothese angesprochen. Ich wollte mit dieser Untersuchung einen intuitiven Lektüre-Eindruck überprüfen: Daß nämlich in den kommentierenden und Meinung transportierenden journalistischen Darstellungsformen gehäuft und gezielt Formulierungen nach dem Vorbild der Syntax der Gesprochenen Sprache verwendet werden. Formulierungen, die den Journalisten offenbar besonders deutlich, nachdrücklich, "griffig" oder "stark" usw. erscheinen; Formulierungen, die außerdem, bezogen auf ihr Umfeld des gesamten Kommentar-Textes, gerade an der Stelle wo sie stehen, im Argumentationsgang besonders "glücklich gewählt" wurden.

 To cite this publication:
Sturm, Martin: Mündliche Syntax im schriftlichen Text - ein Vorbild? Zum Tageszeitungskommentar in "Frankfurter Rundschau", "Rhein-Zeitung" und "BILD", InLiSt - Interaction and Linguistic Structures, No. 7, October 1998, URL: <http://www.uni-potsdam.de/u/inlist/issues/7/index.htm>

 
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InLiSt No.7
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© 1998-2009 University of Potsdam, Prof. Dr. Elizabeth Couper-Kuhlen, Professor of English Linguistics.
2010 University of Bayreuth, Prof. Dr. Karin Birkner, Professor of German Linguistics.