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I S S U E N O . 2 [ J A N U A R Y 1 9 9 8 ]
Peter Auer
Zwischen Parataxe und Hypotaxe
'Abhängige Hauptsätze' im gesprochenen und geschriebenen Deutsch
Syntaktische Konstruktionen wie die in (1)-(3) belegten werden in der
älteren sprachwissenschaftlichen Literatur als "uneingeleiteten Nebensätze"
(etwa Behaghel 1928: 543), in Publikationen der früheren Freiburger
Außenstelle des IdS (z.B. Müller 1971) auch als "abhängigen
Hauptsätze" bezeichnet:
(1) [schulpsychologische Beratung;
IdS-Corpus "Beratungsgespräche"]
BERA: ((...)) muß man ihn immer wieder praktisch äh
aufbauen das geht am besten wenn man eben praktisch immer n stückchen
unter ihm bleibt ja das heißt ihn nie anfangs nie bis an die grenze
bringt sondern äh: schon vorher auffängt und äh schon sachen
lobt wo man eigentlich weiß na=ja also im grunde genommen das müßt=er
eigentlich jetzt schon können
(2) [Meringer 1895, Einleitungskapitel]
((über die medizinische Literatur zur inneren Sprache von psychisch Kranken))
"Ich bitte die Ärzte, es mir nicht übel zu nehmen, wenn ich
sage, ich fand diese Forschungen unbefriedigend" (S. IV)
(3) [genetische Beratung; Hartog 1996]
Berat.: beim großvater würde man sagen gut der war
zu klein ja?
Klient: hm
Berat: das kind das war auch zu klein. aber die zwei die zwischendrin
sind, die sind schon mal gleich groß wie die anderen auch ja?
In allen drei Fällen erfordert das unterstrichene Verb eine obligatorische
Ergänzung in Objektposition; da die kursiv gesetzten Sätze semantisch
auf das Verb bezogen sind, ist es naheliegend, sie als Objektsätze
zu den ohne sie 'ungesättigten' Verben zu verstehen. Es fehlen jedoch
die kanonischen Subordinationsmarker des (normsprachlichen) Deutsch (nämlich
Verbletztstellung und Subjunktion). Man kann deshalb in den vorliegenden
Fällen zwar von syntaktischer Abhängigkeit sprechen (Rektion
durch das Verb), nicht jedoch von Hypotaxe.
Obwohl in den meisten Grammatiken irgendwo erwähnt wird, daß
es solche Zwischenformen insbesondere nach verba dicendi und sentiendi
gebe, sucht man nach den genauen Bedingungen, unter denen sie möglich
sind, meist vergeblich. Dies gilt für die ansonsten sehr ausführliche
DUDEN-Grammatik (1995:747) ebenso wie für die neueren Grammatiken
von Eisenberg (1994) oder Weinrich (1993). Lediglich Helbig/Buscha (1991:646ff)
geben eine Liste von Verben, nach denen "uneingeleitete Objekt- und Subjektsätze"
möglich sein sollen. Diese Auflistung ist aber (angesichts des ansonsten
hohen Niveaus der Grammatik) geradezu erstaunlich falsch. So lassen z.B.
die von Helbig/Buscha aufgelisteten Verben wollen, bestätigen,
begründen (u.a.) in vielen syntaktischen Umgebungen gerade keinen
abhängigen Hauptsatz zu:
(4) *Ich will, du kommst !
(5) ??Wir haben bestätigt, wir kommen am Dienstag an.
(6) *Man muß begründen, man (ich) will (wolle) Urlaub.
Die Beispiele (4)-(6) zeigen, daß die verschiedenen Verben, die
im Deutschen Objektsätze als Ergänzungen haben können, sich
nicht alle gleichermaßen für die Konstruktion mit abhängigem
Hauptsatz eignen. (Ob es tatsächlich immer die Wahl des Verbs ist,
die für die Möglichkeit eines abhängigen Hauptsatzes verantwortlich
gemacht werden kann, wird zu diskutieren sein.) Ziel dieses Beitrags ist
es deshalb, die genaueren Bedingungen der Verwendung der abhängigen
Hauptsätze genauer zu beschreiben. Dazu wird zunächst die Hypothese
überprüft, daß es sich bei abhängigen Hauptsätzen
vor allem um ein Phänomen der Gesprochenen Sprache handelt. Dann werden
die grammatischen Bedingungen (lexikalischer, syntaktischer und pragmatischer
Art) genauer analysiert, unter denen abhängige Hauptsätze vorkommen.
Schließlich wird im letzten Abschnitt ein Ausblick auf die sprachhistorische
Dimension der Konstruktion und auf ihre Dynamik im Rahmen von Grammatikalisierungsprozessen
gegeben.
Published as:
Auer, Peter (1998). Zwischen Parataxe und Hypotaxe: 'abhängige Hauptsätze' im
Gesprochenen und
Geschriebenen Deutsch. Zeitschrift für Germanistische Linguistik 26,
284-307.
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